Tagesordnungspunkt
TOP Ö 8: Entwicklung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung: Verabschiedung einer Resolution
Bezeichnung | Inhalt |
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Sitzung: | 20.07.2006 KA/027/2006 |
Dokumenttyp | Bezeichnung | Aktionen |
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Landrat Schwing wies darauf hin, dass die Kosten für
die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ins Uferlose steigen.
Selbst wenn die Erstattung durch den Bund abgezogen werde, verbleiben beim
Landkreis Miltenberg Beträge von über 1 % Kreisumlage. Es müsse versucht
werden, dass die Kommunen nicht auf Dauer belastet werden. Es laufe bereits
eine Klage gegen das Grundsicherungsgesetz. Es werde gehofft, dass darüber im
Zusammenhang mit der Klage gegen Hartz IV noch dieses Jahr eine Entscheidung
getroffen werde.
Verwaltungsamtsrat Vill führte sodann folgendes aus:
Bis Ende 2002 kaum Anstieg der Fälle
Die Steigerungsraten bei der Sozialhilfe zum
Lebensunterhalt (HLU) beliefen sich in den Jahren 1993 bis 2003 bundesweit auf
jährlich ca. 3 % der Fälle. Im Landkreis Miltenberg ergab sich im Zeitraum vom
31.12.1995 (979 HLU-Fälle) bis zum 31.12.2002 (953 HLU-Fälle) sogar ein
leichter Rückgang.
Am
01.01.2003 Inkrafttreten des Grundsicherungsgesetzes
Am 01.01.2003 trat das Gesetz über eine bedarfsorientierte
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG) in Kraft. Es galt zwei
Jahre. Seit 01.01.2005 werden die Grundsicherungsleistungen (mit nahezu
unveränderten Regelungen) wieder als Form der Sozialhilfe nach dem neuen
Sozialgesetzbuch (SGB XII) gewährt.
Seit Anfang 2003 erhalten Personen über 65 Jahre bzw. auf
Dauer voll erwerbsgeminderte Personen zwischen 18 und 65 Jahren nach diesen
Vorschriften Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherung)
statt der vorherigen Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU). Von der Berechnung und
den Bewilligungsvoraussetzungen ist diese Leistung der HLU nahezu identisch.
Der wesentlichste Unterschied ist aber, dass die Unterhaltspflicht von Kindern
bzw. Eltern der Leistungsempfänger die Zahlung der Grundsicherung nur noch dann
ausschließt, wenn die Unterhaltspflichtigen über ein steuerpflichtiges Einkommen
von mehr als 100.000,00 €/Jahr verfügen. Vermögen wird nicht geprüft. Damit
findet im Regelfall eine Unterhaltsüberprüfung selbst bei gut situierten
Familien nicht mehr statt. Auf Initiative des Bayerischen Landkreistages läuft
derzeit ein Klageverfahren mehrerer Landkreise gegen das GSiG.
Kostenersatzpflicht des Bundes
Nach § 34 Abs. 2 Satz 2 Wohngeldgesetz ist der Bund
verpflichtet, den Kommunen die entstehenden Mehrkosten wegen der
Nichtheranziehung unterhaltspflichtiger Kinder und Eltern zu ersetzen. Der vom Bund
als Kostenersatz bereitzustellende Festbetrag (seither jährlich 409 Mio. €) ist
zum 31.12.2006 erneut auf seine Angemessenheit hin zu überprüfen.
Explosionsartiger Anstieg der Fälle und der Ausgaben
Im Dezember 2003 erfüllten 130 HLU-Empfänger die
Voraussetzungen nach dem GSiG und wechselten in den Leistungsbezug nach dieser
Vorschrift. Ab diesem Zeitpunkt stieg die Nachfrage nach dieser Sozialleistung
unaufhörlich:
01.06.2003: 264 Fälle (103 % Steigerung)
01.03.2006: 391 Fälle (201 % Steigerung)
Immer ist noch ein monatlicher Anstieg um ca. fünf
Fälle zu verzeichnen. Auch die übrigen Sozialhilfeträger in Unterfranken haben
nachweislich einer entsprechenden Umfrage im Oktober 2005 ähnliche Zuwachsraten
zu verzeichnen.
Entsprechend dem Fallzahlenanstieg erfolgte eine Steigerung
der Ausgaben, die zu Lasten des Kreishaushaltes geht. Die Steigerung
(jährlicher Nettoaufwand ohne Bundeserstattung) betrug
2003: 738.442,00
€
2004: 745.474,00
€
2005: 1,409.618,00 €.
Für 2006 sind im Haushalt 1,665.200,00 € veranschlagt,
die nach aktuellen Hochrechnungen noch leicht überstiegen werden.
Teilweise sind die Mehrkosten ab 01.01.2005 auch auf
anderen Faktoren zurückzuführen. Der Wegfall des Wohngeldanspruchs verursachte
im Jahr 2005 Mehrkosten von ca. 218.156,00 €, im Jahr 2006 ca. 261.787,00 €. Ein
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts führte außerdem dazu, dass ab 01.01.2005 Kindergeld
in den Fällen mit Erwerbsminderung nur noch angerechnet werden darf, wenn es
auch tatsächlich für das Kind verwendet wird. Dies verursacht jährliche
Mehrausgaben von ca. 286.440 € im Jahr 2005 und von ca. 323.400 € im Jahr 2006.
Vom Bund erhielt der Landkreis Miltenberg für die
Jahre 2003 bis 2005 480.263,00 € ersetzt. Die um den Kindergeld- und
Wohngeldausfall sowie um die frühere Fallzahlensteigerung von 3 % bereinigten
Mehrkosten, die in den gleichen Jahren somit allein durch die
Fallzahlensteigerung entstanden, beliefen sich dagegen auf 1,129.673,00 €.
Problem: Wie hoch sind die Mehrkosten, die durch den
Unterhaltsverzicht entstehen?
Forderungen der Kommunen, den Erstattungsbetrag nach §
34 Wohngeldgesetz zu erhöhen, begegnete der Bund seither mit der Aufforderung, die
tatsächlichen Unterhaltsansprüche der Grundsicherungsempfänger nach
bürgerlichem Recht festzustellen, damit der Unterhaltsausfall insoweit
beziffert werden könnte.
Diese Forderung ist jedoch unerfüllbar und daher
unredlich, weil das Sozialamt gar nicht berechtigt ist, die wirtschaftlichen
Verhältnisse der Kinder und Eltern von Grundsicherungsempfängern zu ermitteln.
Der bundesweit damit verbundene Verwaltungsaufwand dürfte, selbst wenn es zulässig
wäre, enorm sein. Die Ursache, dass sich die Fallzahlen in der Grundsicherung
bei nahezu identischen Anspruchsvoraussetzungen in 3 ½ Jahren um 222 % anstatt
wie vorher um jährlich maximal 3 % erhöht haben, kann im Wesentlichen nur darin
liegen, dass ältere Menschen bei Sozialhilfeantragstellung nicht mehr
befürchten müssen, dass ihre Kinder vom Sozialamt überprüft werden bzw. dass
die Eltern volljähriger behinderter Menschen im Regelfall nicht mehr mit einem Zugriff
auf ihr Einkommen und Vermögen rechnen müssen, also im gesetzlich vorgegebenen
weitgehenden Verzicht auf die Unterhaltsprüfung.
Bei der Berechnung des vom Bund nach § 34 Abs. 2 Satz
2 Wohngeldgesetz bereitzustellenden Festbetrages sind deshalb ausschließlich die
um den Kindergeld- und Wohngeldausfall sowie um die frühere
Fallzahlensteigerung von 3 % bereinigten Mehrkosten zu ermitteln und als
Grundlage hierfür zu verwenden.
Landrat Schwing sprach sich dafür aus, nicht
zuzuwarten, sondern heute eine Resolution zu verabschieden, die an die
Bundesregierung, die Bayerische Staatsregierung, die Bundes- und
Landtagsabgeordneten sowie die Kommunalen Spitzenverbände gehen soll.
Kreisrat Dr. Fahn sagte, die vorliegenden Zahlen und
Fakten sprechen für sich. Er erinnerte daran, dass die Freien Wähler schon im
Jahr 2003 eine Klage beantragt hätten. Im Kreistag sei dann bekannt gegeben
worden, dass eine Klage 6.800,00 € kosten würde und der Landkreis Miltenberg
sich nicht beteiligen werde. Den Freien Wählern sei eine Resolution im Moment
noch zu wenig, zumal diese keinen Hinweis auf das Konnexitätsprinzip enthalte.
Es werde befürchtet, dass mit der vorgeschlagenen Resolution nicht das erreicht
werde, was man sich erhoffe.
Landrat Schwing bemerkte, dass die Klage seinerzeit
nicht wegen der Kosten zurückgenommen worden sei, sondern weil der Bayerische
Landkreis andere Landkreise ausgewählt habe. Schließlich habe der Landkreis
Miltenberg zum damaligen Zeitpunkt noch nicht zu den großen Verlierern gezählt.
Der Landkreis Miltenberg habe aber gegen Hartz IV Klage erhoben und darüber
werde im Zusammenhang mit der Klage gegen das Grundsicherungsgesetz
entschieden. Ein Hinweis auf das Konnexitätsprinzip in der heute zu
beschließenden Resolution würde nichts bringen. Mit der Resolution soll vielmehr
erreicht werden, dass sich die Kommunalen Spitzenverbände mit dem Problem
beschäftigen. Er bitte daher um Einmütigkeit bezüglich der vorgeschlagenen
Resolution.
Kreisrat Kern meinte, entscheidend seien die Kosten,
die der Landkreis Miltenberg tragen müsse und wie gering die Erstattung des
Bundes sei. Der Resolutionstext sei für ihn klar. Unklar sei ihm, warum
Vermögen nicht berücksichtigt werde und warum nicht der Kreistag die Resolution
verabschiede.
Landrat Schwing erklärte dazu, dass in ganz Deutschland
der Kreisausschuss das „Flaggschiff“ sei. Eine Entscheidung des
Kreisausschusses gelte soviel wie eine Entscheidung des Kreistages.
Verwaltungsamtsrat Vill bemerkte, dass 100.000,00 €
steuerpflichtiges Jahreseinkommen sehr hoch sei. Leider gebe es eine große
Anzahl von Kindern, die Bestätigungen über Steuerbegünstigungen vorlegen. Mit
der vorgeschlagenen Resolution soll nicht zum alten Status zurückgekehrt,
sondern erreicht werden, dass der Bund die Fallzahlen anerkenne und die Kosten
für die Grundsicherung ersetze.
Landrat Schwing wies darauf hin, dass entsprechend der
Föderalismusregelung der Bund künftig kostenpflichtige Aufgaben nur noch den
Ländern zuweisen dürfe. Der Landkreis Miltenberg werde mit seiner Resolution
nur eine Chance haben, wenn nicht zu sehr ins Detail gegangen werde. Die
Forderung müsse lauten, dass die durch das Grundsicherungsgesetz verursachten
Kosten erstattet werden.
Kreisrat Andre vertrat ebenfalls die Meinung, dass
eine kurze Resolution am sinnvollsten sei und dem vorliegenden
Resolutionsentwurf zugestimmt werden sollte.
Kreisrat Scherf erinnerte daran, dass es in der
Vergangenheit viele Diskussionen über die Grundsicherung gegeben habe. Die
Grundsicherung sei richtig und wichtig. Er unterstütze die Verabschiedung einer
Resolution, obwohl sich die Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen auf die Zusage
des Bundes verlassen hätten.
Kreisrat Dr. Fahn erklärte, dass er mit dem
vorgeschlagenen Wortlaut der Resolution nicht zufrieden sei. Er bitte darum,
dass die Resolution des Landkreises Miltenberg folgenden Zusatz erhalte: Der
Bayerische Landkreistag und die bayerischen Landkreise werden aufgefordert,
bezüglich der Grundsicherung eine Resolution analog der vom Landkreis
Miltenberg verabschiedeten Resolution zu erlassen. Damit könnte wesentlich mehr
erreicht werden.
Landrat Schwing bat, auf einen solchen Zusatz zu
verzichten. Der Bayerische Landkreistag werde die Resolution des Landkreises
Miltenberg behandeln. Außerdem könne der Landkreis Miltenberg nicht anderen
Landkreisen vorschreiben, was sie beschließen sollen. Vermutlich würde damit
nur das Gegenteil erreicht.
Kreisrat Neuser stellte Antrag auf Schluss der
Debatte, dem vom Kreisausschuss einstimmig entsprochen wurde.
Weiter fasste der Kreisausschuss einstimmig folgenden
B e s c h l u s s :
Die Belastung des Landkreises Miltenberg durch die Grundsicherung
im Alter und bei Erwerbsminderung steigt ins Uferlose. Deshalb fordert der
Kreisausschuss des Landkreises Miltenberg die Bundesregierung auf, unverzüglich
entsprechende gesetzliche Maßnahmen zu ergreifen sowie die Bundeserstattung
entsprechend zu erhöhen, damit die Kommunen endlich finanziell entlastet
werden.
Der Kreisausschuss des Landkreises Miltenberg verabschiedet
daher folgende
Resolution:
Zum Ende des Jahres 2006 steht die Überprüfung des
Festbetrages an, der den Kommunen für die unmittelbar entstandenen Mehrausgaben
wegen der Nichtheranziehung unterhaltspflichtiger Kinder und Eltern zu
erstatten ist. Der Landkreis Miltenberg fordert den Bund auf, dabei folgenden
Maßstab zugrunde zu legen:
- Eine Feststellung der fiktiven
Unterhaltsansprüche der Grundsicherungsempfänger nach bürgerlichem Recht ist
praktisch kaum und rechtlich nicht möglich und kommt daher nicht in Betracht.
- Als Grundlage muss deshalb die tatsächliche
Ausgabensteigerung seit Inkrafttreten des Grundsicherungsgesetzes ab 01.01.2003
herangezogen werden, bereinigt um
- die Steigerungsquoten vor 2003,
- die
ab 01.01.2005 entstandenen Mehrausgaben durch die teilweise Nichtanrechnung des
Kindergeldes,
- die
ab 01.01.2005 entstandenen Mehrausgaben durch den Wegfall der
Wohngeldansprüche.
Diese Kosten muss der Bund den
Kommunen gemäß § 34 Abs. 2 Satz 2 Wohngeldgesetz erstatten.
Begründung:
Vor Inkrafttreten des
Grundsicherungsgesetzes am 01.01.2003 lagen die Steigerungsraten bei der Hilfe
zum Lebensunterhalt bundesweit bei jährlich ca. 3 %, im Landkreis Miltenberg
sind sie von 1995 bis 2002 sogar leicht zurückgegangen. Nach Inkrafttreten des
Grundsicherungsgesetzes sind die Fallzahlen des Personenkreises von
„Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ im Landkreis Miltenberg bereits
nach sechs Monaten auf das Doppelte und nach drei Jahren und zwei Monaten auf das
Dreifache der Ausgangszahl angestiegen.
Die Nettoausgaben 2006 (ohne
Bundeserstattung) werden sich mit 1,66 Mio. € etwa auf das 4,2-fache dessen
belaufen, was 2003 für die ursprüngliche Anzahl der Fälle zu zahlen gewesen
wäre. Die Entwicklung bei den übrigen Kommunen verläuft ähnlich. Die Steigerung
der Fallzahlen und damit der um die genannten Faktoren bereinigte
Ausgabenzuwachs ist darauf zurückzuführen, dass die Eltern volljähriger
behinderter Leistungsbezieher bzw. die Kinder über 65 Jahre alter Leistungsbezieher
so gut wie nicht mehr auf ihre Unterhaltsleistungsfähigkeit überprüft werden
dürfen.